Charakteristisch für die sog. Reichsbürger-Bewegung sollen u.a. Vielschreiberei und krude Rechtsauffassungen sein. Zu diesen kruden Rechtsauffassungen gehört auch die Behauptung, das Deutsche Reich sei seit 1918/ 1919 militärisch besetzt und die Reichsverfassung sei daher auf völkerrechtlicher Grundlage (Okkupation) suspendiert. Um diese Behauptung zu untermauern tauchte jüngst auf Telegram ein Beitrag mit folgenden Auszügen aus einem Buch offenbar juristischer Natur auf (bedauerlicherweise wurde die Quelle nicht genannt):
Die gelb markierten Textstellen wie auch der erläuternde Text des Telegram-Beitrags suggerieren, daß das Deutsche Reich durch die Ausübung fremder Staatsgewalt suspendiert sei. Der Urheber dieser Suggestion übersieht dabei jedoch einen wichtigen Fakt, der seine Behauptung sofort widerlegt. In einer – nicht gelb markierten – Textstelle wird geschildert, wie der vom König von Preußen für das besetzte Gebiet eingesetzte Generalgouverneur eine Proklamation an die Bewohner des Elsaß richtete, um ihnen offiziell Kund zu geben, daß die französische Staatsgewalt im Bereich der Besatzung außer Kraft gesetzt wurde:
Schlägt man das Wort Proklamation nach, so erfährt man folgendes darüber:
Proklamation (lat.), öffentliche Bekanntmachung, Ausruf (eines Fürsten an das Volk, eines Heerführers an das Heer oder an die Bevölkerung des besetzten Landes etc.).
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 375.
Diese Erläuterung findet sich bestätigt in der Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrates vom 30. August 1945:
An das Deutsche Volk !
I. Laut Bekanntmachung vom 5. Juni 1945 ist die oberste Regierungsgewalt in bezug auf Deutschland¹ von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreiches und der Provisorischen Regierung der Französischen Republik übernommen worden.
Wir stellen damit fest: Sowohl 1870 im Elsaß als auch 1945 in Deutschland erließen die besetzenden Staaten offizielle Verlautbarungen in Form der Proklamation. Dies ist auch zwingend erforderlich, denn schließlich muss die Bevölkerung des besetzten Gebietes wissen, wer die Gewalt und damit das Sagen inne hat.
Liebe Reichsbürger, die ihr euch selbst häufig als 1871er aber nie als Deutsche bezeichnet, und die ihr behauptet, die Reichsverfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 sei durch militärische Besetzung (Okkupation) des Reiches suspendiert:
Wo ist die entsprechende Proklamation aus dem Jahr 1918/ 1919 zum Beleg eurer Behauptung zu finden? Welches ist das Dokument, aus dem hervorgeht, daß die Regierungsgewalt in bezug auf das Deutsche Reich auf eine fremde Staatsgewalt übergegangen ist?
Bismarcks Erben setzen eine Belohnung von zwei Silberunzen aus.
Hinweise bitte über die Kommentarfunktion.
Anmerkung: Die Besetzung des linken Rheinufers ist unstrittig. Diese wurde im »Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918« vereinbart und sie endete 1930.
¹ Hier sei eindringlich darauf aufmerksam gemacht, daß auch die Alliierten 1945 sich in ihrer Proklamation nicht auf das Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich sondern auf Deutschland beziehen. In Artikel II der Proklamation wird gar direkt Bezug auf „Deutschland als Ganzes“ genommen, womit nur jenes oktroyierte Konstrukt gemeint sein kann, welches in Artikel 27 des sog. Versailler Vertrages im Jahr 1919 geschaffen wurde und worauf die Weimarer Republik fußt.
Der Kommentator ist Deutscher. Die erste Frage richtet sich jedoch an die angesprochenen »Reichsbürger« („eurer“), welche sich „aber nie als Deutsche bezeichnen“. Der Kommentator ist daher nicht angesprochen die Frage zu beantworten (subjektive Unmöglichkeit). Nebenbei ist eine Proklamation aus dem Jahr 1918/1919, wie gefordert, nicht existent (objektive Unmöglichkeit).
Der Kommentator akzeptiert daher die Belohnung i.H.v. einer Silberunze, oder vorzugsweise deren Gegenwert in »Ehre«, sofern es ihm gelingt die zweite Frage im Folgenden zu beantworten.
I. Zu den Begriffen.
Das Deutsche Reich (im folgenden DR) ist der Ewige Bund, geschlossen 1870/71 mit Verfassung 1871.
Besetzt, von be-setzen (V.) = etwas in, auf oder an dieselbe setzen1, von sitzen, be-sitzen; Be-sitz = die tatsächliche Sachherrschaft2. Demnach ist »etw. besetzen« die tatsächliche Sachherrschaft erlangen. Zur Beantwortung der ausgelobten Frage muß daher festgestellt werden, wer die tatsächliche Herrschaft, Herrschermacht über das bzw. im DR besitzt und ob und an wen diese übergegangen sei.
Ist, von sein; gibt einen derzeitigen Zustand an.
Alle Art. sind sofern nicht anders gekennzeichnet solche der Bismarck’schen Verfassung aus dem Jahre 1871.
II. Zu den Gründen.
1.) Staatsgewalt.
Die Staatsgewalt ist die höchste, d.h. unumschränkte Macht, im Staate (subj. Staatslehre), Herrschermacht.3 Staatsgewalt ist auch der Inbegriff der dem Staate gegenüber seinen Gliedern zustehenden Herrschaftsrechte (obj. Staatslehre).4 In modernen Verfassungen erfolgt die Dreiteilung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung5, ist aber dennoch stets als einheitliche Gewalt aufzufassen.6 Der Bundesrath, welcher Vertreter der Träger der Einzelstaatengewalt, welche bei den Monarchen liegt, ist der Träger der Reichsgewalt, also der Staatsgewalt des Reiches.7 Träger der Reichsgewalt sind demnach die 25 Einzelstaaten des Ewigen Bundes, Art. 6.
2.) Regierungsgewalt
Die nach der hier gefragten Regierungsgewalt ist die verfassungsmäßige Ausübung der Rechte der Staatsgewalt8, also Gesetzgebung, Justiz und Verwaltung, oder auch das freie Handeln innerhalb gesetzlicher Schranken.9 Die Staatsgewalt wird insoweit ausgeübt durch die Staatsorgane10 , welche sind: Bundesrath, Reichstag11, Kaiser12, sowie Behörden13. So stehen bspw. die militärhoheitlichen Befugnisse gem. Art. 63 ff. ausschließlich dem Kaiser zu. Weiterhin fällt unter Regierung auch Gesetzgebung14, die zwar keinen gesetzlichen Schranken unterlegen ist, wohl aber jenen der Verfassung. Die Gesetzgebung wird ausgeübt durch Bundesrath und Reichstag gleichermaßen. Damit ist die Regierungsgewalt zunächst eine dreigeteilte, unter der Berücksichtigung der Behörden eine vielgeteilte, und von der Staatsgewalt, als all-einige, zu unterscheiden.
3.) Fremde Staatsgewalt
Fremd = Entfernt15; nicht eigen; also alles was nicht der Heimat angehörig ist.16 Fremde Staatsgewalt in Bezug auf das DR ist jene, welche nicht dem DR eigen, diesem entfernt, fremd und nicht angehörig ist. Nicht zu verwechseln ist die Staatsgewalt mit einer Mitgliedschaft oder Angehörigkeit, wie bspw. in Art. 1 und 6 oder § 1 RuStAG. Die Staatsgewalt des DR erstreckt sich nicht auf die Staatsgewalt der Einzelstaaten, welche dem Bund angehören.17 Andererseits sind die Träger der Reichsgewalt die Vertreter der Einzelstaaten (s.o.). In den monarchischen Einzelstaaten geht die Staatsgewalt stets von vom Monarchen aus, welcher gleichzeitig Träger der Staatsgewalt, als auch Ursprung derselben ist.18 Die Staatsgewalt der Einzelstaaten ist demzufolge eine andere, als die Reichsgewalt, letzterer also fremd. Gleichzeitig liegt die Reichsgewalt bei den Einzelstaaten, womit diese stets in fremden Händen, also fremder Staatsgewalt liegt. Gleichfalls ist eine Gewalt fremd, wenn diese nicht der gewöhnlichen, also bekannten Ordnung des Staates entspricht und somit verfassungsmäßig un-eigen, un-bekannt ist. Da die Staatsgewalt gewöhnlich in den Händen und nur diesen der Einzelstaaten liegt, ist jede andere fremd.
4.) Die Regierungsgewalt müsste an die Staatsgewalt der Einzelstaaten oder eine andere als denselben übergegangen sein.
Unumschränkter Träger und Inhaber der Staatsgewalt der Einzelstaaten ist stets der jeweilige Monarch (s.o.). Diesen liegt die Staatsgewalt des DR inne (s.o.). Den Übergang derselben regeln die jeweiligen Hausgesetze. Gefragt ist vorliegend jedoch nicht nach der Inhaberschaft, sondern dem Besitze, also der tatsächlichen Ausübungsgewalt. Mit dem Putsch im Jahre 1918/1919 wurde die tatsächliche Ausübung der Staatsgewalt durch die Monarchen aufgegeben.19 Gleichzeitig hat der „Rat der Volksbeauftragten“ die oberste Regierungsgewalt des Reiches, einschließlich der gesetzgebenden Gewalt, am 10. November bis auf weiteres an sich genommen.20 Ein “Rat der Volksbeauftragten“ ist der Verfassung fremd. Damit ist die Regierungsgewalt in der Form Ihres bloßen Besitzes in fremde Hände gelangt. Staatsgewalt ist nicht weiter ableitbare Herrschaftsgewalt, Herrschergewalt aus eigener Macht und daher zu eigenem Recht.21 Da diese fremde Gewalt die Herrschergewalt tatsächlich ausübt ist sie Staatsgewalt.22
III. Ergebnis
Die Regierungsgewalt, deren Besitz gewöhnlich in der Hand der Staatsgewalt des DR, welche wiederum bei den verbündeten 25 Einzelstaaten liegt, ist 1918/19 übergegangen an fremde Mächte. Diese Mächte sind sodann Staatsgewalt. Ein Dokument, welches dies belegt ist die Erklärung des bay. Königs vom 13. November, welches sich auf jene In-be-sitz-nahme (vgl. besetzen) vom 10. November bezieht. Das DR, als Gesamtstaat23, selbst ist und war nie von fremden Mächten besetzt. Wenn überhaupt liegt der Besitz desselben bei den Organen des Bundes, welche seit Verlusst der Regierungsgewalt handlungsunfähig sind und somit den Besitz, also die tatsächliche Sachherrschaft, aufgegeben bzw. verloren haben. Der „Rat der Volksbeauftragten“ hat mit Gründung der Weimarer Republik selbst die Regierungsgewalt aufgegeben. Diesen Umstand mag die irrige Meinung entspringen, die Reichsgewalt sei seitdem mangels Organe herrenlos und würde nicht länger ausgeübt.24 Grob verkannt wird dabei der Übergang25 der Staats- und partiellen Regierungsgewalt an nachfolgende Bundesfürsten entsprechend der diesbezüglich nicht abgeänderten Hausgesetze. Dabei sei dahingestellt, ob die Regierungsgewalt tatsächlich auch ausgeübt werden will. Spätestens mit Aufgabe der Regierungsgewalt durch den Zwischenherrscher, dem „Rat der Volksbeauftragten“, ist diese wieder vollumfänglich an den legitimen Träger übergegangen. Alle anderen Organe der Staatsgewalt sind, unabhängig ihrer Besetzung als abstrakte Gebilde, ebenso weiterhin vorhanden.26 Daneben ist die Fortdauer der Staatsgewalt unabhängig von der Existenz der speziellen Organe, in welchen sie sich verkörpert.27 Allenfalls mangelt es an fähigen und bewussten Deutschen, die jene Organe besetzen.
1) Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 1. Leipzig 1793, S. 911-912.
2) Pierer’s Universal-Lexikon, Band 2. Altenburg 1857, S. 673-674.
3) Meyer-Anschütz 1919, Lehrbuch des deutschen Staatsrecht § 5; Bazille S. 18 III.
4) Anschütz S. 31, Nr. 2.
5) Anschütz S. 28 Rn. 3a.
6) Anschütz S. 31, Nr. 2.
7) Bazille § 40 I.
8) Pierer’s Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 930.; M Brockhaus‘ Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 505.
9)Anschütz S. 29.
10) Rönne, Staatsrecht der preußischen Monarchie, S.203; Anschütz § 121.
11) Jellinek, System 286 ff., Jellinek, Staatsl. 545, 548 ff., 566 ff. ; v. Seydel-Piloty, Bayr. Staatsr. 1 215 ff.; Anschütz, Enzykl. 138. ff.
12) So auch Anschütz, wenn er bestätigt die Regierungsgewalt wird auch ausgeübt durch den Kaiser, sh.
13) Anschütz § 106 I.
14) Anschütz § 155 I.
15) Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2.
16) Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7.
17) Rönne, Staatsrecht der preußischen Monarchie, S. 118 ff.
18) vgl. Seydel Staatsrecht; Rönne, Staatsrecht der preußischen Monarchie S. 203.
19) vgl. für Bayern: Erklärung des Königs von Bayern, Ludwig vom 13. November 1918, https://www.bavarikon.de/object/GDA-OBJ-00000BAV80000827.
20) Anschütz S. 1034.
21) Anschütz S. 489 f.
22) vgl. Anschütz, S. 26.
23) vgl. Jellinek, Staatslehre, 3- Elemente-Lehre.
24) BVerfGE 2 BvF 1/73.
25) Hierin läge ein weiterer Beweis des Überganges der (partiellen) Regierungsgewalt des DR an eine (diesem) fremde Staatsgewalt.
26) Haenel, St.R. 1 99 ff.
27) Anschütz, S 18.
Lieber Carsten, vielen Dank für deine Ausführungen. Bedauerlicherweise biegst du bereits bei den Begrifflichkeiten falsch ab: I. Zu den Begriffen. Besetzt, von be-setzen. Es ist unzweideutig nach dem völkerrechtlichen occupatio gefragt. Da Krieg ein Unternehmen des Reiches, als eines einheitlichen völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Subjekts, ist¹ und Krieg nur zwischen unabhängigen Staaten als Subjekten der Völkerrechtsgemeinschaft zulässig ist², kommt als fremde Staatsgewalt für occupatio nur ein oder mehrere Staaten aus den Reihen der Kriegsgegner des Deutschen Reiches in Frage. Somit hast du das Thema verfehlt (und keinen Hinweis auf die gesuchte Proklamation gegeben).
¹ Laband, Staatsrecht, Bd 4 Seite 259
² §1, Jovy, Kriegserklärung und Friedensschluß nach deutschem Staats- und Völkerrecht.
Quelle der Texte auf den Bildern:
„Die völkerrechtliche Stellung der vom Feind besetzten Gebiete“ von Christian Meurer
Vielen Dank dafür!
Das Deutsche Reich war keinesfalls militärisch besetzt!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) vom 31.07. 1973, zum Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR: „ Es wird daran festgehalten, daß das Deutsche Reich (d.h. das Deutsche Kaiserreich) den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die Alliierten noch später untergegangen ist; es besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit …“ Es ist allgemein bekannt, daß alle Entscheidungen des BVG die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, der Gerichte und Behörden juristisch binden. Bedarf es eines weiteren Beweises, warum es keine Proklamation 1918/19 geben kann? Es gibt keine Proklamation, mit der Dokumentation, daß die Regierungsgewalt im Deutschen Reich durch fremde Staatsgewalt ersetzt wurde. Bitte u.a. beachten: BRD-Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), Ausfertigungsdatum: 22.07.1913; vergleiche RuStAG, Ausfertigungsdatum 22.07.1913! Mit der Reichsverfassung vom 16.04.1871 wurde der ewige Bund der deutschen Staaten geschlossen. Dieser Bund ist – außer durch Gewalt – nicht aufzulösen, denn er ist ein verfasster Bundesstaat und ein Völkerrechtssubjekt, das alle Deutschen umfasst.
Danke Sascha für die kurze, perfekte Argumentation zum o.g. umfangreichen 1.Kommentar.